Du willst wohin? Frankreich? Normandie? In die Heimat des Cidres, des Pommeau und des Calvados? Die ungläubigen Blicke meines Gesprächspartners, gepaart mit dem Unverständnis mich mit einer fast vergessenen Spirituosenkategorie (und deren Verwandten) detailliert zu beschäftigen und dafür eine über 2000 Kilometer lange Reise auf mich zu nehmen, sprachen Bände.
Calvados, war das nicht ein Getränk unserer Altvorderen vor einer langen, langen Zeit? So in den 70er oder 80er Jahren des letzten Jahrhunderts? Also lange, sehr lange schon vorbei. Und was ist überhaupt „Pommeau“?
Gerade das fasziniert mich. Wie wir in unserer heutigen, schnelllebigen Zeit, immer auf der Suche nach „Neuem“ und „Innovativem“ sind und dabei vergessen, dass es viele Kategorien gibt, die heute wieder in das Geschmacksbild der jungen (und alten) Generation passen, die es aber schon sehr lange gibt und die wir nur vergessen (oder verdrängt?) haben.
Interessant ist auch zu erleben, wie sich diese neuen Kategorien heute darstellen, wie sie sich entwickelt haben und wie sie den Herausforderungen der heutigen Zeit begegnen. Ein interessanter Besuch in der Normadie, der Heimat des Calvados und seiner Verwandten, z.B. des Pommeau.
Eine kurze historische Einführung
Calvados ist eine sehr alte Spirituose. Schon bereits im 16. Jahrhundert wurden Obstgärten (heute würde man sagen: Streuobstwiesen) angelegt.
Schon 1553 gab es die erste schriftliche Erwähnung von Apfelbränden in der Normandie durch Gilles de Gouberville, einen normannischen Landadeligen. Im 16. Jahrhundert begannen Bauern, Apfelwein (Cidre) zu destillieren – vor allem zur Konservierung und als Medizin. Der heutige Name „Calvados“ taucht erst später auf und ist möglicherweise von einem Schiff der spanischen Armada namens „El Calvador“ abgeleitet, welches 1588 vor der normannischen Küste strandete.
Die Destillation wird im 18. Jahrhundert professioneller, besonders in der Region Pays d’Auge, so dass sich im 19. Jahrhundert der Calvados zunehmend in ganz Frankreich und darüber hinaus verbreitet. Noch ist er ein Soldaten-, Bauern- und Arbeitergetränk. Doch das sollte sich ändern.
Die offizielle Anerkennung als kontrollierte Herkunftsbezeichnung (Appellation d’Origine Contrôlée, AOC) erfolgte in 1942 während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg Diese Anerkennung als AOC gewährt einen Schutzstatus, welcher bis heute gilt. In den Jahrzehnten nach dem Krieg wuchs die Qualitätskontrolle. Heute gibt es drei AOC-Zonen:
Calvados AOC (größte Zone), Calvados Pays d’Auge AOC (strengste Vorschriften, doppelte Destillation) und Calvados Domfrontais AOC (mit hohem, mindestens 30-prozentigem Birnenanteil).
Nach aktuellen Aufzeichnungen des Calvados Büro (IDAC) soll es vom Calvados AOC (allgemeine Appellation) etwa 54 Produzenten, in der Region Pays d’Auge (Calvados Pays d’Auge AOC) etwa 24 Produzenten und im Calvados Domfrontais AOC etwa acht Produzenten geben.
Berühmte Häuser des Calvados in der Region Pays d’Auge sind unter anderem das Château du Breuil (1954), das Haus Calvados Christian Drouin (1960er Jahre), das Haus Calvados Boulard (1825), das Haus Calvados Busnel (1820) und das in fünfter Generation familiengeführte Haus Calvados Roger Groult (1860).
Das Schloss Château du Breuil
Château du Breuil besticht durch sein historisches Schloss aus dem 16. Jahrhundert, welches auch den Mittelpunkt der Anlage bildet. Dort findet in einigen Lagerhäusern die Lagerung der Calvados statt. Umgeben ist das in einer parkähnlichen Anlage beheimatete Schloss im Norden der Region von Wäldern und Obstbäumen. Die eigentliche Gründung der heute im Besitz von La Spiriterie Française befindlichen Marke erfolgte 1954 und wird seitdem stetig ausgebaut. Mit einer Jahresproduktion von ca. 420.000 Flaschen Calvados ist Château du Breuil der zweitgrößte Produzent von Calvados Pays d’Auge.
Die Herstellung und Präsentation des Calvados ist eine Kombination aus traditioneller Herstellung (doppelte Destillation) und starkem Fokus auf Präsentation und Besucherzentrum. Dazu kommen neue Produkte wie z.B. Liköre, Cidre und Pommeau und neuerdings auch Whisky aus dem Hause.
Der Stil ist fruchtbetont und ergibt harmonische Calvados, oft mit samtiger Textur. Erhältlich sind vielfältige Abfüllungen von jungen Qualitäten bis hin zu sehr alten Jahrgängen.
Calvados Château du Breuil V.S.O.P.
Als Allrounder im Sortiment von Château du Breuil wird der Calvados Château du Breuil V.S.O.P. angepriesen. Dieser Calvados Pays d’Auge, für den mindestens zehn Kilogramm Äpfel je Flasche benötigt werden sollen, reift mindestens vier Jahre in Fässern aus französischer Eiche aus den nahegelegenen Limousin- und Tronçais-Wäldern.
Die Tasting-Notes beschreiben den Geruch des hell-bernsteinfarbenen Calvados Château du Breuil V.S.O.P. fruchtig und komplex mit Noten von reifem Apfel, frischer Mandel und Zitrusfrüchten (Orangenschale und Limette), gefolgt von Aromen von Quitte. Im Mund sei er weich und rund mit Noten von reifen Früchten und Quitte. Gute Länge am Gaumen mit einer leichten Bitterkeit von Mandel und Kern.
Das Haus Christian Drouin
Calvados Christian Drouin wurde Ende der 1960er Jahre von Christian Drouin sen. in Pays d’Auge gegründet, bevor Christian Drouin jun. Ende der 70er Jahre die Firma übernahm. Es ist ein familiär geführtes Haus, bekannt für handwerkliche Produktion mit Fokus auf lange Fasslagerung und alte Jahrgangsabfüllungen. Guillaume Drouin, Sohn von Christian jun., führt heute die Geschäfte und hat die Range um eine experimentelle Reihe mit verschiedenen Finishes erweitert.
Dabei lässt er die ursprüngliche Philosophie mit Nutzung traditioneller Apfelsorten aus eigenen Obstgärten und doppelter Destillation in Kupferbrennblasen natürlich nicht außen vor, was auch die vielfach ausgezeichneten Qualitäten belegen. Calvados Drouin gilt vielen als Referenzproduzent für komplexe, elegante Calvados mit großem Lagerbestand an gereiften Qualitäten. Mit der Marke Comte Louis de Lauriston besitzt Christian Drouin auch noch ein Haus im Domfrontaise für die dortigen Calvados Domfrontaise AOC.
Das Juwel Calvados Roger Groult
Ein ganz besonderes Haus ist Calvados Roger Groult. Gegründet bereits 1860 von Pierre Groult im Herzen des Pays d’Auge wird es heute von Estelle Groult in fünfter Generation geführt. Strikte Handarbeit, eigene Obstgärten (ca. 30 Hektar) rund um das wunderschöne Estate in Valorbiquet, im Süden der Region Pays d’Auge, und eine doppelte Destillation in einzigartigen, historischen Holzfeuer-Kupferbrennblasen sind einige Kennzeichen dieser herausragenden Qualitätsprodukte.
Schon die Auswahl der zugelassenen Apfelsorten für die Produktion des Cidres, die Ruhezeit der Cidre bis zur Destillation und die anschließende Destillation in traditioneller Weise sind ein weiterer wichtiger Aspekt der finalen Qualität der Calvados.
Das langsame Brennen über Holzfeuern in den klassischen Brennkesseln mit typischer „pot charentaise“ Form und Vorwärmer für den Cidre garantieren einen einzigartigen, runden und gleichzeitig komplexen Charakter der Destillate.
Calvados Roger Groult zeichnet aus, dass keine Filtration oder Färbung zum Einsatz kommen und eine langsame Fassreifung in verschiedenen Eichenholzqualitäten und Fassgrößen für die finale Komplexität und Milde zusammenkommen. Ein Besuch der kathedralgleichen Lagerhäuser ist mit seinem Duft und der Atmosphäre darin ein einmaliges Erlebnis.
Die Erzeugnisse von Calvados Roger Groult werden Estelle Groult und Jürgen Deibel im Rahmen eines Tastings am 31. Oktober beim Fachhändler Kierzek in Berlin vorstellen. Anmeldungen dafür bei Kierzek direkt.
Ganz besonders von Interesse sind die Abfüllungen aus den viele Jahrzehnte alten „perpetual casks“, in denen Destillate über Dekaden lagern und dabei immer wieder, nach Vorgabe von Estelle Groult und ihren Vorvätern, mit vorgereiftem „eau-de-vie“ in kleinen Mengen ergänzt werden und diese damit in Kombination mit den ganz alten Destillaten ihren komplexen Charakter entfalten können.
So entstand die bereits über Generationen erarbeitete Reputation des Hauses für authentische, kraftvolle und komplexe Calvados mit markanter Fruchtnote und feinem Holzcharakter.
Neben den Abfüllungen aus den perpetual casks werden auch Millésimes und Abfüllungen mit der Jahresangabe des jüngsten Destillates angeboten. Und auch eine Variante des Pommeau, „Autrement Pomme“ mit 20-prozentigem Alkoholvolumen, findet sich als Aperitif im Portfolio des Hauses Calvados Roger Groult.
Pommeau – der unbekannte Apfelaperitif
Wie nun schon mehrfach erwähnt, bieten alle Häuser heute zusätzlich zu Calvados und Cidre auch einen Pommeau an.
Pommeau ist ein vergleichsweise junger Apfelaperitif, der aus der Vermählung von Apfelsaft (Most) und jungem Calvados (oder anderem Apfelbrand) entsteht. Dieses Verfahren nennt sich „Mutage“: der Alkohol stoppt die Gärung des Safts, wodurch die natürliche Süße erhalten bleibt.
Obwohl die Herstellungsmethode schon seit Jahrhunderten in Bauerntraditionen bekannt war, blieb Pommeau lange Zeit ein „Hausgetränk“ der normannischen und bretonischen Landbevölkerung.
Erst in den 1970er- und 1980er-Jahren begannen professionelle Produzenten, Pommeau systematisch zu vermarkten. Die offizielle Anerkennung folgte 1981: Pommeau de Normandie erhält den rechtlichen Schutz als „Produit de Qualité“. In 1991 erhielt das Getränk eine eigene Appellation d’Origine Contrôlée (AOC), ein bedeutender Schritt zur Qualitäts- und Herkunftssicherung. Darüber hinaus gibt es seit den 90er Jahren auch die Varianten „Pommeau de Bretagne“ und „Pommeau du Maine“ mit einem AOC-Status.
Heute hat sich Pommeau als regionaltypischer Aperitif mit geschützter Herkunft in Frankreich und ausgewählten Top-Locations der Gastronomiewelt durchgesetzt. Er gilt als eine Brücke zwischen Cidre und Calvados: süßer, aber mit Körper und Reifung. Die Lagerung erfolgt mindestens 14 Monate in Eichenfässern, viele reifen jedoch deutlich länger.
Resümee
Die kurze Reise in die Welt des Calvados hat mir gezeigt, wie vielfältig die Kultur dieser Region und seiner Produkte sind. Doch war es wieder nur ein winziger Blick in die Vielfalt dieser vergessenen Spirituosenkategorie. Es gibt noch viel mehr zu entdecken, viele Produzenten, Aromen, Destillate und die Menschen und Geschichten dahinter. Die dazugehörigen Orte innerhalb und Regionen außerhalb des Pays d’Auge sowie die gesamte Region im Norden Frankreichs sind immer eine Reise wert!
Mein Dank gilt den Menschen, die ich treffen durfte, die ihre Geschichte und Geschichten mit mir geteilt haben und die mich auf dem Weg zu Calvados, Pommeau und Cidre begleitet haben.
Neben den exzellenten Calvados ist Pommeau als Entdeckung für einen frischen, belebenden Aperitif ganz besonders im Gedächtnis geblieben. Niemand sollte sich diesen Genuss entgehen lassen und den Calvados als Begleiter zum Essen (oder als Digestif) müssen wir (leider) erst wieder für uns entdecken!
Machen wir es doch wie die Franzosen: „Fait le trou normand“ („Das normannische Loch“) oder „den Trou Normand machen“ ist eine französische Gastronomie-Tradition, bei der zwischen zwei Gängen eines mehrgängigen Menüs ein Glas Calvados oder ein mit Calvados getränktes Apfelsorbet getrunken wird, um die Verdauung anzuregen und Platz für die nächsten Gänge zu schaffen.
Wäre das nicht eine Einladung, diese Kategorie neu zu entdecken?
Viel Spaß beim Genuss wünscht
Ihr Jürgen Deibel
















